Der 23. Juni 2016 markiert eine Zäsur in der Geschichte der Europäischen Union. Mit dem knappen Sieg der EU-Gegner bei einem Referendum im Vereinigten Königreich entschied sich erstmals ein Mitgliedsstaat dafür, den Austritt aus der Union einzuleiten.

Der so genannte „Brexit“ hatte bereits im Vorfeld für massive Verunsicherung gesorgt, die teilweise bis hin zu beinahe apokalyptischen Untergangsszenarien reichte. Derzeit ist noch nicht absehbar, inwieweit die schlimmsten Konsequenzen abgemildert werden können. Optimisten rechnen beispielsweise mit dem Abschluss von individuellen Freihandelsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU oder einzelnen Ländern wie Deutschland. Dies könnte einigen der derzeit befürchteten wirtschaftlichen Implikationen ihren Schrecken nehmen.

Fakt ist jedoch: Wenn der Brexit tatsächlich kommt, wovon derzeit auszugehen ist, dann wird dies speziell für international agierende deutsche Unternehmen Folgen haben. Es muss damit gerechnet werden, dass Handel und Geschäfte mit englischen Kunden, Unternehmen und Partnern komplizierter und aufwendiger werden. In der Konsequenz könnte sich dieser erhöhte Aufwand vor allem durch steigende Kosten widerspiegeln. Eine nähere Betrachtung dieser Fragestellung ist umso relevanter, da derzeit z.B. in Italien, Niederlande oder Frankreich von einigen Parteien ähnliche Überlegungen hinsichtlich eines möglichen EU Austritts stattfinden und diskutiert werden auch für diese Mitgliedsstaaten zukünftig gelten könnten.

Steigende Logistikkosten

Zu den größten Problemen im Zuge des Brexits zählt für Unternehmen der mögliche Entfall des EU-Binnenmarkts. Müssen Warenlieferungen zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich künftig verzollt werden, so führt dies zwangsläufig zu höheren Logistikkosten durch administrativen, personellen und zeitlichen Mehraufwand. Besonders stark betroffen könnten davon größere Unternehmen sein, die Niederlassungen, Werke oder Standorte sowohl in Deutschland als auch im Vereinigten Königreich unterhalten. Denn auch innerbetriebliche Lieferungen, etwa vom Werk in Bremen zum Standort in Manchester, könnten dann den entsprechenden Verzollungsregularien unterliegen.

Branchen sind unterschiedlich stark betroffen

Naturgemäß wären von einer solchen Entwicklung vor allem solche Unternehmen und Branchen betroffen, die relativ viel Warenverkehr mit dem Vereinigten Königreich unterhalten. Zu nennen sind hier beispielsweise exportorientierte deutsche Schlüsselbranchen wie Maschinenbauunternehmen und die Autoindustrie. BMW etwa hat im Jahr 2015 mehr als 230.000 Fahrzeuge in Großbritannien verkauft, was über zehn Prozent des weltweiten Absatzes entspricht. Der Münchener Premiumhersteller unterhält zudem vier eigene Werke in England, darunter das Motorenwerk in Hams Hall bei Birmingham.

Andere Unternehmen hingegen wären selbst bei einem radikalen Brexit – also ohne einen entsprechenden Ausgleich durch ein Freihandelsabkommen – deutlich weniger stark betroffen. So schätzt etwa Carsten Knobel, Finanzvorstand des traditionsreichen deutschen Konsumgüterherstellers Henkel, den Austausch von Waren mit dem Vereinigten Königreich auf lediglich etwa zwei Prozent des Gesamtvolumens ein.

Unterschiedliche Regularien

Mögliche Zölle sind jedoch nicht die einzigen Probleme, denen sich Unternehmen angesichts des Brexits gegenübersehen. Während sich die EU um einheitliche Richtlinien und Regularien für die Zulassung und Markteinführung von Produkten bemüht, könnte Großbritannien auch in diesem Punkt künftig durchaus eigene Wege gehen. Im schlimmsten Fall kann dies dazu führen, dass unterschiedliche Produktvarianten für den EU-Markt und für das Vereinigte Königreich benötigt werden. Ein weiterer Faktor, der die Kosten massiv treiben könnte.

Konsequenz: Steigender Druck auf den Einkauf

Angesichts der möglichen Entwicklungen ist damit zu rechnen, dass sich in vielen Unternehmen der Druck auf die gesamte Supply Chain erhöhen wird, um steigende Ausgaben für die Logistik anderweitig abzufangen und auszugleichen. Der Einkauf kommt hierbei gleich in mehrfacher Hinsicht ins Spiel. So werden sich deutsche Firmen, die derzeit wichtige Waren oder Rohstoffe von Unternehmen im Vereinigten Königreich beziehen, vermutlich nach möglichen Alternativen umsehen, um für den Fall der Fälle zumindest einen „Plan B“ in der Schublade zu haben.

Optionen bei der Beschaffung sind gefragt

Das kann beispielsweise bedeuten, sich um alternative Lieferanten außerhalb Großbritanniens zu bemühen, erste Verhandlungen zu führen und mögliche Rahmenbedingungen abzustecken. Angesichts der im Detail nach wie vor unklaren weiteren Entwicklung sollte man sich hier jedoch nicht zu voreiligen Schritten hinreißen lassen. Für die allermeisten Unternehmen ist es nicht sinnvoll, nun überstürzt langjährig gewachsene Lieferantenbeziehungen zu beenden, sofern nicht ohnehin auch preisliche oder funktionale Gründe dafür sprechen. Es geht für Verantwortliche im Einkauf vielmehr darum, sich entsprechend vorzubereiten und bei der Überprüfung der Supply Chain besonderes Augenmerk auf Lieferantenbeziehungen mit Unternehmen aus dem Vereinigten Königreich zu legen.

Optimierung des Einkaufs

Nicht in allen Fällen wird es gelingen, mögliche Brexit-Folgen auf diese Weise vollständig abzufedern. Die Konsequenz daraus ist, dass CFOs und Einkaufsleiter gezwungen sein könnten, weitere Effizienzsteigerungen und Einsparungen zu realisieren. Je nach Branche und Unternehmen kommen hier individuell sehr unterschiedliche Ansatzmöglichkeiten ins Spiel. Nach einer gründlichen Potenzialanalyse, die vorhandene Möglichkeiten für Einsparungen aufzeigt, sind beispielsweise Programme zur strategischen Einkaufsoptimierung und Beschaffung, Ausschreibungen, Neu- und Nachverhandlungen mit Lieferanten oder die Überarbeitung von Produkt- und Dienstleistungsspezifikationen die Mittel der Wahl.

Derzeit noch viel Raum für Spekulation

Auch wenn die genauen Folgen noch nicht absehbar sind und zudem vom Verlauf des Austrittsprozesses und den entsprechenden Verhandlungen abhängen: Der Brexit wird Veränderungen für Einkauf und Logistik mit sich bringen. Selbstverständlich wird der Handel mit dem Vereinigten Königreich nicht komplett einbrechen – es besteht also kein Anlass für übertriebene Panik. Hürden und Schranken in Form von Zöllen, zeitlichen Verzögerungen, Veränderungen bei der Anerkennung von Rechtsformen (hier könnten beispielsweise britische „Limiteds“ in Deutschland betroffen sein) können aber zu Kostensteigerungen führen, die anderweitig aufgefangen werden müssen.
Problematisch für Unternehmen ist derzeit vor allem die fehlende Planungssicherheit, da die meisten Aussagen zu den Brexit-Folgen naturgemäß einen relativ spekulativen Charakter haben und von vielen Variablen abhängen. Als schwerwiegend könnten sich indes Ansteckungstendenzen in anderen EU-Ländern erweisen: Sollten weitere Staaten dem Vorbild des Vereinigten Königreichs folgen, dann könnten die Konsequenzen insgesamt deutlich gravierender ausfallen.

Die Vorbereitung auf den Brexit

Da sich die zu erwartenden Verhandlungen über längere Zeit hinziehen werden, wird bis zum Eintreten tatsächlicher Konsequenzen noch etwas Zeit vergehen. Unternehmen sollten diesen Spielraum nutzen, um ihre interne Aufstellung jetzt auf den Prüfstand zu stellen und sich gegen mögliche Folgen zu wappnen. Dazu zählt beispielsweise eine genaue Analyse der derzeitigen Abhängigkeiten und Verbindungen zum Markt im Vereinigten Königreich: Welche Waren, Produkte und Dienstleistungen werden gegenwärtig aus dem „Brexit-Raum“ bezogen und welches Volumen macht dies insgesamt aus? Welche wichtigen Lieferanten und/oder Kunden gibt es im Vereinigten Königreich? Lassen sich bereits heute Alternativmodelle vorbereiten, etwa in Form zusätzlicher Optionen bei Lieferanten oder durch mögliche weitere Zielmärkte? Ist die Logistik personell, infrastrukturell und technisch dafür bereit, höheren Aufwand und einen komplizierteren Warenverkehr zu bewältigen? Wo liegen innerhalb der Supply Chain Einsparpotenziale verborgen, durch die höhere Ausgaben gegebenenfalls ausgeglichen werden können?

Unternehmen können sich je nach internen Ressourcen selbst mit diesen Fragestellungen beschäftigen oder aber die externe Sichtweise eines spezialisierten Beratungsunternehmens hinzuziehen. In jedem Fall gilt: Je frühzeitiger sich Firmen mit den möglichen Konsequenzen beschäftigen, umso eher werden sie in der Lage sein, negative Folgen abzumildern.

Für weitere Informationen über den Brexit und seine Konsequenzen bitte den Autor Tim von der Decken kontaktieren.